Wie im letzten Post, dem mit dem Interview mit Saudan, schon kurz angedeutet, ist Sylvain Saudan an manchen Stellen auch kritisch zu sehen. Dass es diesen Post auch wirklich braucht, ist mir insbesondere klar, da ich Feedback bekommen habe, in dem genau das angesprochen wurde. Also los, schreiben wir zur Tat – was lässt sich an Herrn Saudans Karriere kritisieren und wofür muss man ihm neidlos Anerkennung zollen? Heute ohne Fotos – der Post ist besser ohne, da meta und aus Gründen.
Erst einmal die Kritikpunkte:
- Zum einen ist da natürlich die Tatsache, dass Sylvain offensichtlich und insgesamt wenige Erstbefahrungen auf seinem Konto verbucht. Meiner Zählung nach 12 Stück. Verglichen mit anderen, Pierre Tardivel, Stefano de Benedetti oder Heini Holzer, ist das geradezu lächerlich wenig – von den genannten Herren kommt jeder alleine auf über 100 bestätigte Erstbefahrungen. Woher also der Hype um Saudan?
- Hinzu kommt, dass keine seiner Erstbefahrungen nach heutigen und vermutlich selbst damaligen Maßstäben übermäßig schwer war. Er gibt selbst zu, dass in Bergsteigerkreisen bereits darüber diskutiert wurde solche Unternehmungen durchzuführen. Andere Beispiele: Die Befahrung der Pallavicini Rinne mit Firngleitern Anfang der 1960er oder die Fuscherkarkopf Nordwand Mitte der 1930er Jahre auf lapperigen Holzski und mit Lederstiefeln waren schon auch irgendwie vergleichbar schwer.
- Bei seinen Abfahrten hat Sylvain Saudan oft auf Träger für Material inklusive Ski zurückgegriffen. Er warf sich häufig erst am Einstieg der Abfahrt in die Skifahrerkluft, er mutierte vom Bergsteiger zum Skifahrer. Das widerspricht ziemlich dem inzwischen gültigen Ethos, dass Abfahrten nur zählen, wenn sie vorher auch aus eigener Kraft erklommen wurden. Dazu gibt es sogar eine Art “Manifest” von Anselme Baud und Patrick Vallençant. Jedoch: Die ersten Steilwandfahrer machten sich über irgendwelche Ethosfragen wohl noch keine Gedanken, sie wollten erst einmal nur irgendwo als erste runter – wie sie da hoch gekommen sind war egal. Wie es zu beschriebenem Manifest kam, kommt in einem späteren Post.
- Aus zwei Quellen wurde mir berichtet, dass insbesondere bei den außereuropäischen Befahrungen eventuell nicht alles mit rechten Dingen zuging. Was genau, ob die Abfahrten überhaupt in voller Länge gelangen, ob auch alles mit Ski befahren wurde, wie viel Hilfe von außen kam, darüber schweigen sich alle jene jedoch hartnäckig aus. Hörten sie den Namen Saudan, schüttelten sie jedoch den Kopf. Was genau da passiert ist, lässt sich für mich nicht mehr nachprüfen – ein Kapitel, über das der Mantel des Schweigens gehüllt wurde.
- Er machte sein Ding – ohne nach links und rechts zu blicken. Mit anderen seiner Zunft pflegte er keinen oder kaum Austausch. Ein Eigenbrötler also, der halt seine Sache durchzieht und dabei keine bis wenig Rücksicht auf Verluste nahm.
Was Saudan aber geschafft hat:
- Er war der richtige Mann zur richten Zeit am richtigen Ort – und er wusste es. Durch sein Gespür, wie er Pressevertreter für seine Geschichten begeistern konnte, erreichte er ein enorm großes Publikum. Nur so wurde das Steilwandskifahren überhaupt bekannt. Ideen reifen, die Technik und die Wahrnehmung verändert sich im Laufe der Zeit. Es brauchte genau diesen Typen zu diesem Zeitpunkt, um eine neue Disziplin des Alpinismus wahrlich aus der Taufe zu heben. Kein einziger Steilwandfahrer hat es vorher und danach geschafft eine so große mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Saudan war “Mainstream” – seine Filme liefen in den Kinos rauf und runter und wurden vom Hobbyalpinisten bis zum Hausmütterchen gesehen. Weltweit kannte man den Steilwandskifahrer, der vom Eiger abgefahren war.
- Das Gespür für die richtige Aktion zum richtigen Zeitpunkt ging so weit, dass er auch die medial wirksamen Abfahrten zur entsprechend besten Zeit durchführte. Rückblickend gesehen war der Abstand zwischen seinen Aktionen ideal getimed, um einen konstant hohen Mediendruck für seine Sache aufrecht zu erhalten. Erst jährlich ein paar, für damalige Verhältnisse, heftige Aktionen so platziert, dass er immer wieder im Gedächtnis blieb und dann die Pausen so in die Länge gezogen, dass seine Expeditionen mit genau der richtigen Spannung erwartet wurden. Das kann auch heute noch jeder, der irgendwas mit Marketing zu tun hat, mal näher anschauen, um die darunter liegende Strategie zu würdigen.
- Mit Sponsoren für sportliche Leistungen auch wirklich Geld zu verdienen, fiel damals noch fast allen sehr schwer. Formel 1 Fahrer und Fußballprofis hatten ein Auskommen – aber als Alpinist doch nicht – das war nur ein ernsthaftes Hobby. Hermann Buhl, der Erstbesteiger des Nanga Parbat, musste nur 10 Jahre vorher noch sehr regelmäßig als Bergführer und Sportfachverkäufer arbeiten, um überhaupt seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Die großen Alpinisten waren auch damals meist vermögende Privatiers, die nicht auf Finanzspritzen angewiesen waren. Sylvain Saudan war erst Lastwagenfahrer und dann Skilehrer! Die finanziellen Polster dürften entsprechend ausgesehen haben.
- Für eine komplett neue Disziplin so viele Sponsorengelder einzusammeln, dass er sich einen Sportwagen leisten konnte, war sicher nicht leicht. Andererseits galt es damals auch die letzten Grenzen zu erreichen. Insofern hatte Sylvain auch hier den Zeitgeist exakt getroffen. So mancher Freeride-Profi wäre heute froh auch nur annährend so viel zu verdienen wie es Saudan geschafft hat. Durch die Kombination aus Filmen, Berichterstattung, Vorträgen und Sponsoren reichte es aber “gut”.
- Den Bergsportlern sind Marketing und Sponsoring ja immer irgendwie suspekt, ein wenig wie bei Künstlern, Musikern oder Schauspielern. Sylvain Saudan hat es verstanden, wie er im damaligen Kontext den Zeitgeist trifft und daraus ein Geschäftsmodell kreieren kann, das ihn sein ganzes Leben lang ordentlich ernährt. Wer sich heute dafür entscheidet ein Leben als Profisportler, Künstler o.ä. zu führen, findet in Saudan ein Vorbild wie das gelingen kann. Die Mechanismen haben sich vermutlich gar nicht so sehr geändert – es ist nur alles viel schneller geworden.
- Ganz so trivial einfach, wie oben angedeutet, waren seine Abfahrten natürlich nicht. Er hatte neben dem Gespür für die richtigen Abfahrten zum richten Zeitpunkt natürlich auch das Können, als Skifahrer und Alpinist, sich auf die Abenteuer auch wirklich einzulassen. In unseren Gesprächen hat er stets betont, dass er immer auf Nummer sicher ging und ihm auch nie etwas ernsthaftes zugestoßen ist. Knapp war es trotzdem öfters – und seine erste Expedition ging ordentlich schief. Bei Expeditionen geht aber heute auch noch immer viel schief. Damals wusste man vieles einfach noch nicht. Er war diesbezüglich einfach ein hervorragender Planer, Stratege, furchtlos und vielleicht doch ein wenig naiv. Genau das, was man da heute auch noch braucht.
- Bei all der Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit ist er ein sehr sympathischer, offener und netter Mensch geblieben. Allüren einer Diva kann man ihm jedenfalls nicht nachsagen. Natürlich steht er in seinem Universum im Mittelpunkt, aber das darf man ihm auch gar nicht übel nehmen – schließlich hat er dieses Universum auch selbst geschaffen.
Fazit:
Ich habe Sylvain Saudan als netten, sympatischen und vor allem herausragenden Menschen kennen gelernt, von dem man sehr viel lernen kann. Es hat Spaß gemacht ihn am Telefon und live zu interviewen. Dabei war es erst einmal ziemlich schwierig ihn überhaupt zu erreichen, da er viel Zeit in Kaschmir verbracht hat, um sein Unternehmen zu lenken. (Mit über 70 Lenzen machen das sicher nicht besonders viele). Ich weiß nicht mehr, wie oft ich ihm E-Mails geschrieben habe und auf der Mailbox eine Nachricht hinterließ. Oft! Eigentlich hatte ich schon aufgegeben – es ist halt doch nicht jeder erreichbar und gegenüber irgendwelchen Typen, die ein Interview führen wollen, schon gar nicht. Irgendwann klingelte dann aber mein Telefon und ich wusste erst gar nicht wer da anrief. Er war freundlich und zuvorkommend, lud mich zu sich nach Chamonix ein und das Ergebnis war das Interview aus dem letzten Post. Das zeigte mir, dass er sich sicher nicht auf seinem Ruhm ausruht und nach wie vor der quirlige Macher war, den man als Beobachter seiner Karriere kennt. Auch seine Offenheit gegenüber Kritik, die er dann zwar rethorisch gekonnt umschiffte, überraschte mich. Er sieht sich selbst als genau das was er ist – derjenige, der zu einem gewissen Zeitpunkt das Glück hatte vor Ort zu sein, die entsprechenden Fähigkeiten und Kontakte hatte und alles zusammen in einen Topf geworfen hat, um es Karriere zu nennen. Das ist ihm zweifellos gelungen und dafür verdient er definitiv auch den Ruhm des ersten echten Steilwandskifahrers – denn ohne ihn hätte all das viel viel länger gedauert. Für meine Recherchen habe ich mit einer Menge Skialpinisten gesprochen und jeder einzelne, der nach ihm kam, hat ihn als Vorbild benannt.
Es ist ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals, dass Saudan jetzt mit gleichem Maß gemessen wird, wie er andere misst. Und zwar schmälert er für meinen Geschmack die Leistung von Steilwandfahrern, wenn er im Interview in Abrede stellt, dass es “zulässig” sei, sich in der Wand abzuseilen. Diese Behauptung scheint mir subjektiv, ja anmaßend.
Das gleiche ist es, wenn er hier auf’s Butterbrot geschmiert bekommt, dass er Träger benutzt hat.
Das passiert eben, wenn man zu sehr nach der Anerkennung anderer sucht, und seine eigenen Leistungen hervorheben und vermarkten will.
Dann legt man irrelevante subjektiv selbst erfundene Grundsätze an andere an, und andere legen ihre angeblichen Qualitätsmaßstäbe auch an einen selbst an.
Darüber hinaus wundert es mich nicht, dass er beim geleisteten Neider hat. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, und für mich ist es nicht das geringste Indiz, da irgendwelche Ungereimtheiten zu vermuten.
Selbst wenn irgendwer ein- oder zweimla übertreibt oder irgendwas nicht ganz authentisch wiedergibt. Sowas unterläuft sehr vielen einmal zwischendrin.
Stimmt schon – Leistung zieht immer Neider nach sich. Der Post war insgesamt so gedacht, dass sich aus den letzten 3 Beiträgen zusammen ein möglichst realistisches Bild von Sylvain Saudan ergibt. Auch wollte ich schaffen, dass klar wird, welche vielen Komponenten das Steilwandskifahren an sich ausmachen – von der sportlichen Leistung bis hin zur Vermarktung. Hoffe das ist mir einigermaßen gelungen.
Erstmal ist die ganze Recherche interessant und wissenswert, ich kenne das alles noch gar nicht. Und mit einem Interview eine zusätzliche primäre Informationsquelle über eine Persönlichkeit zu schaffen ist fraglos ein recht substanzieller Beitrag zur Dokumentation eines Themas. Dankeschön.
Bitte. Gebe mir alle Mühe das Niveau weiter zu heben!