Info:
Geboren: 23. September 1936, Westschweiz
Lebt in: Chamonix, Frankreich
Das Interview ist weitgehend ungekürzt – ein Werkstatteinblick. Es soll keine “Heldenverehrung” darstellen, die Kontroversen rund um Sylvain Saudans Karriere bespreche ich in einem folgenden Beitrag. Dies hier ist ein Interview, die Ansichten und Meinungen sind also die von Sylvain Saudan selbst.
Erstbefahrungen:
- April 1967 – Rothorn Rinne
- Mai 1967 – Piz Corvatsch Nordwand
- 23. September 1967 – Aiguille de Blaitière – Spencer Couloir
- 10. Juni 1968 – Aiguille Verte – Whimper Couloir
- 17. Oktober 1968 – Mont Blanc du Tacul – Gervasutti Couloir
- 10. Juni 1969 – Monte Rosa – Marinelli Couloir
- 6. Oktober 1969 – Aiguille de Bionassay – Nordwand
- 9. März 1970 – Eiger – Nordwestwand
- 3. März 1971 – Mount Hood – Nordostrinne
- 11. April 1971 – Grandes Jorasses – Südwand
- 9.-10. Juni 1972 – Mount McKinley (Denali) – Südwestwand
- 24. Juni 1973 – Mont Blanc – Südwestwand
- 26. Juni 1977 – Nun Kun (7.135m) im Himalaya
- 27.-28. Juli 1982 – Gasherbrum I (Hidden Peak, 8.068m) im Himalaya
- 23. September 1986 – Mount Fuji an seinem 50 Geburtstag – ohne Schnee

Zum Interview sind Hartmut Pohl und ich auf einer kleinen Rundreise – während der wir noch weitere Steilwandfahrer besuchen. Die Nacht vor dem Interview haben wir erst biwakiert und sind bei beginnendem Regen doch ins Auto umgezogen. Der Tag selbst wird wunderschön – keine Wolke am Himmel. Es ist warm, ein Sommertag.
Sylvain Saudan empfängt uns in seinem Büro in Les Houches, einem kleinen Ort nahe Chamonix. Das Büro ist direkt neben der Polizeistation und besteht aus einem kleinen L-förmigen Zimmer mit großer Glasfront. Es stehen alte Ski in den Ecken, Bücherregale stecken voller Aktenordner, eine Kommode ist überbordend mit Krimskrams belegt. Papier- und Magazinstapel stehen hier und da an den Wänden. Großformatige Bergfotografien bestimmen die Szene. Es wirkt weder unordentlich noch steril – hier geht offensichtlich jemand seiner Arbeit nach und genießt dabei die Aussicht über den Dorfplatz.
Saudan ist zum Zeitpunkt (2013) des Interviews 74 Jahre alt, braun gebrannt, rüstig und macht einen freundlichen Eindruck. Ich darf mich auf einen Stuhl setzen, Knut schießt Fotos. Sylvain setzt sich mir gegenüber auf die Ecke eines typischen Büroschreibtischs aus den 80ern. Er hat wache, faszinierende Augen. Rund um die Iris sind sie ganz hell, als würde sie in Flammen stehen. Er steckt voller Energie und ist aufmerksam.
Von Beginn an führt er das Gespräch – was mich überrascht da die Skialpinisten, die ich bislang erlebt habe, eher wortkarg sind. Sylvain aber hält einen Vortrag über das Abenteuer Steilwandskifahren. Natürlich mit ihm selbst als Hauptprotagonisten. Er ist sich seiner prominenten Stellung bewusst. Seinem Auftreten wohnt eine natürliche Lockerheit inne, die außerordentlich angenehm und sympathisch wirkt. Ein Gentleman mit Charme.
Eine sympathische Freundlichkeit umgibt ihn wie eine Aura. Es herrscht zwar eine gewisse Distanz, doch durch seine Art wirkt er nie unnahbar. Er erzählt mir vor dem Interview von seinem aktuellen Berufsleben, in dem er Vortrage bei Firmen hält, sowie ein Heliskiunternehmen im Himalaya leitet. Einige Zeit sprechen wir allgemein über das Steilwandskifahren und wie es dazu kam, woher die Idee kam und wie sich diese Vorgänge auf seine Karriere ausgewirkt haben. Immer wieder merkt man, dass Saudan zur Kamera schielt und sich bewusst in Pose wirft. Im Verlauf des Gesprächs wird er immer nahbarer, letztlich sehen wir seine Büchersammlung durch und er zeigt mir stolz Fotos von sich als Steilwandskifahrer.
Es ist offensichtlich, dass er sich in der Rolle als Protagonist dieser Sportart wohl fühlt. Allüren oder gar Arroganz kann man bei ihm dabei nicht entdecken. Allerdings ist vom ersten Moment an klar, dass es hier um ihn geht. Um einen der prägenden Charaktere des Steilwandskifahrens.
Vor dem Interview habe ich das Buch von Paul Dryfus
Extremes auf Skiern über ihn gelesen. Saudan kommt aus ärmlichen Verhältnissen, aufgewachsen im französischsprachigen Wallis. Mit dem Skifahren begann er schon früh, er fuhr Skirennen, trainierte Jugendskimannschaften. Beruflich schlug er sich zunächst als LKW Fahrer durch und machte schließlich die Prüfung zum Skilehrer. Als solcher arbeitete er 12 Monate im Jahr rund um den Globus. Während eines Aufenthalts in Graubünden fuhr er erstmals aus eigenem Antrieb im April 1967 steile Rinnen am Rothorn im Skigebiet von Arosa. Kurz darauf die Nordflanke des Piz Corvatsch in Sankt Moritz. Zurück im Wallis machte er, wie schon öfters zuvor, einen Ausflug mit Freunden nach Chamonix – dabei kam es zur Idee das Spencer Couloir an der Aiguille de Blaitière zu befahren. Hier beginnt das Interview mit seiner Ausführung dazu, woher er die Idee hatte solch eine Route, die zuvor nur Alpinisten vorbehalten war, mit Skiern abzufahren.
B: Wie war das in den 60ern als Sylvain Saudan das „Unmögliche“ tat? Woher kam die Idee?
S: Es verhielt sich folgendermaßen: Ich habe nie mit jemandem darüber diskutiert, ob eine Abfahrt möglich sei oder nicht. Ich wusste ob eine Abfahrt bereits gemacht worden war oder nicht, und ich musste niemanden befragen was er von dem Vorhaben hielt. Denn sofern dieser jemand es für möglich gehalten hätte, dann hätte es bereits jemand anderes gemacht. Das ist logisch, es gab schon immer ambitionierte Männer. Da ich aber wusste, dass es noch nie gemacht worden war, musste ich niemanden fragen ob es möglich wäre. Die Abfahrt durch das Spencer 1967 war die erste Abfahrt in einem Gelände das zuvor ausschließlich den Alpinisten gehörte. Es gab im Inneren der Bergsteigerkreisen aus Genf durchaus die Diskussionen und das Wissen wie man etwas wie das Spencer abfahren könnte. Lionel Terray, Lachenal, Rébuffat, die ganzen Großen waren sich der Sache bewusst. Innerhalb des Alpinclubs wurden sogar 5.000 Schweizer Franken ausgelobt an denjenigen, der das Couloir mit Ski befährt. Terray und Lachenal sind sogar aufgestiegen und beschlossen bei etwa der Hälfte das Unternehmen abzubrechen. Mein Equipment war besser als ihres, insbesondere die Schuhe, und sie merkten damals, dass es mit ihrem Material in den 50ern nicht möglich war. Sie waren die besten Alpinisten ihrer Zeit und auch sehr gute Skifahrer – Sie dachten darüber nach so etwas zu machen. Aber sie konnten es nie verwirklichen!
Selbst habe ich von diesen Vorhaben Terrays und Lachenals erst im Nachhinein erfahren. In Chamonix gab es damals das „Hotel de Paris“. Das war neben der Post, es ist heute kein Hotel mehr. Dort stiegen die ganzen großen Skifahrer, Abenteurer, Alpinisten der Epoche ab und es gab eine Art Wettbewerb um die Erstbesteigungen. Bonatti, usw. war auch dort. Der Besitzer der Bar des Hotels erzählte mir von dem Vorhaben der beiden einen Tag nachdem ich abgefahren war. Wir fragten auch Jean Juge aus Genf, der die Bergsteiger aus Genf bestens kannte, und er konnte die Geschichte bestätigen.
Ich selbst habe nie darüber gesprochen wenn ich irgendwo hinunter fahren wollte. Außer meinen Freunden die mir geholfen haben die Ski hinaufzutragen, habe ich niemandem etwas erzählt. Nach der Abfahrt dann natürlich schon! Um Sponsoren und die Presse zu informieren.
Vor einer Abfahrt war ich mir sicher, dass ich es schaffen würde. Nie bin ich irgendwo hinunter gefahren wenn ich mir nicht sicher war! Auf Russisches Roulett war ich nicht scharf.
Diese Sicherheit ist sehr schwer zu beschreiben: es gibt etwas das in einem schlummert, ein Wissen darum wer man ist. Man kann das nicht an einer Universität lernen, aber man spürt es. Und zum zweiten ist es schwer die Risiken eines Unterfangens einzuschätzen wenn man sich selbst diesen Risiken aussetzt. Man muss die Schwierigkeiten abschätzen können ohne in der eigenen Haut zu stecken. Um sich selbst einzuschätzen muss man in die Haut eines anderen schlüpfen und sich zugleich sehr gut kennen. Wenn man das schafft kennt man das Resultat seines Vorhabens im Voraus. Es gibt da kein „Klick“ im Kopf, man muss das bewusst herbeiführen.
Meine Abfahrten hatten eine Progression in sich, ich habe mit dem Spencer begonnen und mit einem 8.000er abgeschlossen, inklusive Zwischenstationen bei 6.000ern und 7.000ern. Wie die großen Alpinisten. Messner beispielsweise hat sich auch gesteigert, bis hin zu der Besteigung der 8.000er ohne zusätzlichen Sauerstoff. Als die Normalwege alle abgegrast waren haben sich die Alpinisten schwierigeren Routen zugewandt, haben sich also einer Progression zugewandt.
B: Gibt es denn heute im Steilwandskifahren noch eine Steigerung?
S: Nein, ich sehe keine mehr. Die ganzen schweren Abfahrten wurden schon durchgeführt, also die ohne Seil jedenfalls. Mit Seil könnte man wohl noch den „Grand Cappuzin“, die Eiger Nordwand, die Nordwand der Grandes Jorasses abfahren. Man könnte sich abseilen, dann wieder ein paar Meter mit Ski fahren, dann wieder abseilen. Also ich übertreibe da jetzt sehr, aber das ist nun mal heute noch übrig. Aber womöglich tue ich dem Fortschritt da auch unrecht, man weiß es ja nicht was noch mit Ski möglich sein wird! Aber in den Alpen wird es wohl keine Steigerung mehr geben.
Das ist wie im Alpinismus, auch da findet die Steigerung im Himalaya statt.
B: Heute gibt es ja auch breitere Ski die sich leichter drehen lassen, mit denen man auch schnell durch große Hänge fahren kann.
S: Ja schon, aber das Gervasutti ist noch niemand so schnell und flüssig abgefahren. Meine Abfahrten hat niemand in diesem modernen Stil wiederholen können, weder das Whymper noch das Spencer. Und ich persönlich möchte mit breiten Ski nicht in einem steilen Hang von 55° stehen. Schmalere Ski sind da viel stabiler und angenehmer. Das habe ich inzwischen ausprobiert. Auch die Skischuhe sind eine Spezialanfertigung, die an den Außenseiten abgeflacht ist damit man die steilen Hänge nicht berührt. Andernfalls wäre mir die Kante abgerutscht.
B: Die Ära Saudan hat etwa 15 Jahre gedauert und war mit dem 8000er abgeschlossen?
S: Spencer, Eiger 69`, das hat die Presse interessiert und damals gab es in Frankreich eine Nachrichtensendung in den Kinos und meine Abfahrt lief überall. Sonderlich jung war ich damals auch schon nicht mehr und als man mich fragte, ob ich nun mit dem Steilwandskifahren aufhören würde sagte ich, dass mein Ziel ist, einen 8.000er mit Skiern abzufahren.
Das war für mich ein Markstein, das war Gelände das nur den Alpinisten gehörte und wenn ich das schaffen würde wäre mir alles möglich.
Innerhalb von 15 Jahren habe ich diese Evolution realisiert.
B: Worin lag die Motivation dazu?
S: Nun, das ist schwer zu beantworten. Nach der Befahrung des Eiger lag meine Motivation ganz klar darin eine Progression, eine Evolution, zu schaffen. Zudem wollte ich mein eigenes Limit weiter hinaus schieben. Ich wollte nicht das gleiche wo anders machen, ich wollte immer etwas noch schwierigeres machen. In den Alpen kann man sich abends ausruhen, man isst gut, legt sich zu Ruhe und am nächsten Morgen geht es los. Am Mount McKinley mussten wir erst mal 23 Tage Marsch zum Berg auf uns nehmen. Da schläft man in Zelten etc.. Wenn man dann zu den 8000dern geht sieht es wieder anders aus. Und wenn man dabei auch noch einen Film über die Aktion machen möchte kommt die Logistik hinzu. Wir brauchten damals 340 Träger. Das kostet Geld und man hat einen höheren Erfolgsdruck. Nicht von den Sponsoren, man macht ihn sich selbst. Und wenn man dann auf 8.000 Metern ankommt ist das nicht so wie hier auf einem Berg. Man kommt an und soll dann auf einer anderen Seite hinunter fahren. Da wo es noch keine Spuren gibt! Die Bedingungen sind ganz andere. Das ist nicht mit den Alpen vergleichbar. Deshalb spreche ich von einer Evolution und wenn das jemand nachmacht ziehe ich meinen Hut vor der Leistung. Am McKinley waren damals zwei Alpinisten im Abstieg unterwegs die man nie wieder gefunden hat. So etwas passiert in den Alpen nicht.
Das Abenteuer ist für mich, wenn man sich an einen abgelegenen Ort begibt und dort etwas herausforderndes leistet das noch niemand zuvor geschafft hat.
Wenn es zuvor schon jemand geschafft hat, dann hat man ein Abenteuer für sich selbst geschafft, aber es ist kein Abenteuer mehr im eigentlich Sinne.
Deshalb stehe ich in dem Buch der 50 größten Abenteurer der letzten 200 Jahre. Ich habe etwas gemacht das vorher niemand gewagt hat. Natürlich habe ich diese Unternehmungen in erster Linie für mich selbst gewagt, für andere habe ich mich als Skilehrer oder Bergführer eingesetzt. Das Abenteuer aber war für mich allein, es hat mich persönlich weiter gebracht.
Das ist der Kern von Abenteuer, der Zweite, Dritte oder Vierte haben natürlich für sich selbst auch ein Abenteuer durchstanden, aber ihre Leistung lässt sich höchstens noch in Form von Bestzeiten vergleichen.
Die Ersten, die etwas gewagt haben, die sind die echten Abenteurer, egal wie schnell oder elegant etwas von jemand anderem wiederholt wird. Es zählt der Erste. Aber: Es ist nicht immer gut der Erste zu sein. Hier sind wir in Chamonix, im Herzen der Berge. Für einen Bergführer ist es sein Beruf mit Klienten durch das Spencer Couloir zu steigen. Das kostete damals, als ich es erstbefahren habe, 800 Francs (Anm.: umgerechnet wären das heute 120,- Euro). Dann kommt jemand der diese Tour mit Skiern hinab fährt. Damit steigt natürlich der Wert der Abfahrt aber es reduziert zugleich massiv den Preis des Aufstiegs. Dann war man zwar der Erste der etwas geschafft hatte, aber alle sagen, dass dies nichts bringt und zugleich eine zuvor gute Einkommensquelle verringert. Diese Argumentation war damals gang und gäbe. Man sagte ich sei ein Verrückter, man versuchte den Wert des Aufstiegs trotz meiner Erstbefahrung aufrecht zu erhalten indem meine Leistung verringert wurde. Deshalb war es nicht immer gut der Erstbefahrer zu sein, man bekam Anschuldigungen das Geschäft kaputt zu machen. Dem Zweiten wird man dies nie vorwerfen.
Ich bin aus dem Aktionsraum der Skifahrer ausgebrochen und habe etwas gemacht das eine neue Bewertung des Alpinismus erforderlich machte.
Die Haltung gegenüber der sportlichen Leistungen musste verändert werden. Von Außen wurde nun das Niveau der Bergprofis, der Bergführer und Skilehrer, neu bewertet, worüber diese Profis natürlich nicht sonderlich erfreut waren. Solange bis sie sich auf die neue Situation eingestellt hatten.
B: Welche Antwort auf die Anschuldigungen kam vom damaligen Sylvain Saudan?
S: Ich habe nie eine Antwort gegeben. Das hätte niemandem etwas gebracht und insbesondere hätte es meine Zeit beansprucht, um mich zu rechtfertigen. Es ist in solchen Dingen nicht mein Problem wie andere auf meine Handlungen reagieren. Punkt. Natürlich haben einige behauptet ich hätte einfach Glück gehabt, aber die habe ich durch die konsequente Verbesserung meiner Abfahrten widerlegt.
Man warf mir vor Lebensmüde zu sein, unverantwortlich zu handeln – und ich habe meine Leistungen noch übertroffen!
B: Und wie konnte man damit Geld verdienen?
S: Nun, da hatte ich wohl Glück, dass man im Alpinclub von Genf gemerkt hat, dass da etwas passiert, am Limit des Skifahrens, dass da jemand neue Wege geht. So konnte ich mit Sponsoren meinen ersten Film drehen. Über die Aiguille de Bionnassay. Der war zwar noch nicht sonderlich professionell aber immerhin, er wurde recht gut angenommen und oft gezeigt. Und von da an hatte ich gute Sponsoren, bis vor fünf Jahren etwa, also weit über 25 Jahre lang. Mit meinen ehemaligen Sponsoren habe ich immer noch ein gutes Verhältnis, auch weil ich natürlich noch Vorträge halte, über meine Filme, mein Equipment das ich dann zeige und so weiter. Es ist nicht leicht über einen langen Zeitraum im Gespräch zu bleiben, das klappt nur wenn man die besten Leute um sich schart, um das bestmögliche Produkt zu produzieren. In meinem Fall waren das Filme. Es ist eben wichtig für die Sponsoren, dass man viele Menschen über einen längeren Zeitraum erreicht. So war es auch als beispielsweise die Expedition im Himalaya große Probleme hatte. Sie scheiterte, hatte aber damals ganze 300.000 Dollar gekostet. Das war natürlich nicht das Bild das man sich gewünscht hatte. Aber so etwas ist halt auch Teil des Spiels, das muss man akzeptieren. Und es ging ja auch weiter bis es geklappt hat. Um den Film über die nächste Expedition zu drehen brauchte ich 500.000 Dollar und davon haben Sponsoren die Hälfte übernommen. Die andere Hälfte musste ich selbst auftreiben.
Ein großes Risiko, vielleicht größer als die Abfahrt selbst.
Salomon gab mir 250.000 Dollar! Sie sagten, dass der Kerl es jetzt allen beweisen müsse, dass er es unbedingt will. Und sie waren davon überzeugt, dass ich es diesmal schaffe. Das war also eine sehr harmonische Kooperation, sie glaubten an mich und ich konnte somit tun was ich tun musste.
Heute ist es sicher viel schwieriger geworden solch große Aktionen durchführen zu können. Das liegt meiner Ansicht nach sicher zum einen am Internet. Die Welt wird kleiner und jeder kann jederzeit überall auf der Welt sein. Das Geheimnisvolle, das Mythische geht verloren. Zum anderen ist der Wert eines Filmes über solche Abenteuer kleiner geworden, sie sind schnell konsumiert und werden dann vergessen. Damals konnte ich mit meinen Filmen nicht nur ein paar Bilder verkaufen. Ich habe einen Lebensstil verkörpert und auch das ist heute kaum noch möglich. Durch Handys und Satellitentelefonen ist man ständig in Kontakt mit der Zivilisation. Man kann Hilfsaktionen organisieren, kann Auskunft über seinen Standort geben. All das nimmt natürlich sehr viel vom echten Abenteuer fort. Es bleiben daher heute kaum noch echte Abenteuer. Zu meiner Zeit waren wir auf uns gestellt. Tagelang, ohne Nahrung, mit erfrorenen Zehen und Fingern, ohne Möglichkeit mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen. Es gehört aber mit zu einem echten Abenteuer, dass man eben keinen „Rückzugplan“ hat der immer da ist. Keine Notfallhängematte sondern echte Gefahr. Das war damals noch ganz anders. Auch auf den Weltmeeren, da konnte man nicht einfach mal telefonieren und um Hilfe rufen. Die Öffentlichkeit hat sich auch verändert. Würde heute jemand nackt mit einem Gleitschirm vom Everest ins Basecamp fliegen und er hätte nur Sandalen an, dann würde man ihn heute fragen: „warum hast Du denn Sandalen an?“. Diese Frage wäre Journalisten früher gar nicht in den Sinn gekommen. Heutzutage ist man an alles mögliche schon gewohnt.
Früher hatten wir noch Freiraum, wir konnten los ziehen und es gab viele Abenteuer. Diejenigen, die heute noch etwas derartiges leisten wollen haben es sehr viel schwerer als wir damals.
Außer im Himalaya und derart abgelegenen Orten gibt es so gut wie keine Möglichkeiten mehr echte Abenteuer zu erleben. Die großen Abenteuer sind aber schon passiert, das ist vorbei! Außer im technischen Bereich, beispielsweise wenn jemand mit einem Minihelikopter über den Atlantik fliegt, um zu sehen ob das überhaupt möglich ist. Das ist noch ein echtes Abenteuer. Und es bleibt natürlich der Weltraum, aber das ist ja auch sehr technisch behaftet. Überall wo einem niemand sagen kann wie es gemacht wird, da gibt es auch heute noch Abenteuer. Aber der Raum wird immer kleiner. Abenteuer bedeutet dorthin zu gehen wo noch niemand war, wo es keinen Weg gibt, wo noch niemand bewiesen hat, dass es geht. Das war bei meinen Befahrungen immer so, es hatte noch niemand gemacht. Insbesondere auf dem McKinley und im Himalaya.
Die Ski rutschen dort genauso schnell wie hier. Aber die Muskeln, alle Sinneseindrücke und die Gedanken sind viel langsamer. Das weiß man vorher nicht, jemand muss es gemacht und durchlebt haben.
Aber persönliche Abenteuer wird es dagegen immer geben. Jemand, der 50 Jahre lang in seinem Dorf gelebt hat und dann zum ersten mal in ein Flugzeug steigt, der durchlebt auch ein Abenteuer, aber eines das schon sehr viele Menschen vor ihm hatten.
Würde ich heute geboren verliefe mein Leben vermutlich ganz anders. Ich hatte Glück zur richtigen Zeit am Richtigen Ort zu sein, um meinem Talent zu folgen und meine Ziele zu verwirklichen. Ich beneide die Jugend von heute nicht, ich wüsste bei dem modernen Leben nicht was ich machen würde. Vielleicht ergäbe sich etwas, aber ich weiß es nicht.
B: Das heutige Steilwandskifahren ist recht technisch geworden. Abseilen gehört häufig dazu. Was hältst Du davon?
S: Da bin ich total dagegen. Das nimmt viel weg.
Wenn man ein Seil hat, oder einen Fallschirm, dann wird alles viel einfacher. Mit diesen Hilfsmitteln kann es ja jeder.
Man weiß ja, wenn man fällt riskiert man nichts. An Stellen die technisch und psychologisch schwieriger sind lässt man einfach ein Seil hinunter und schon kann jeder solche Stellen befahren. Zumindest jeder der sich abseilen kann. Damit kann man sich jede felsige Wand hinunterseilen, am sogenannten Limit. Schon wenn man einen Rucksack mit Seil darin dabei hat ändert sich das Spiel da man weiß, dass man sich retten könnte. Ich bin meine Abfahrten immer ohne Rucksack und ohne Seil gefahren, nur mit Ski. Und das ist etwas ganz anderes!
Die Gefahr wird viel bewusster, der Druck steigt enorm, viel mehr Abenteuer. Deshalb sage ich, dass eine Abfahrt mit Seil nicht den gleichen Wert hat, nicht die gleiche Qualität.

B: Wie ist das dann in Abfahrten die ohne ein Abseilen nicht möglich wären?
S: Wenn es ohne nicht geht, dann geht es nicht als Skiabfahrt. Vielleicht kommt eines Tages einer der es nur mit Ski schafft. Hätte man 48 Stunden vor meiner Abfahrt durch das Couloir Spencer gefragt ob es möglich ist, wäre die Antwort immer gewesen, dass es nicht geht, dass aber vielleicht eines Tages jemand kommt der es schafft. Das gleiche gilt heute.

B: Die Abfahrtsmöglichkeiten nur mit Ski sind somit wenige, sie sind limitiert.
S: Alles ist limitiert! Neue Gipfelerstbesteigungen gibt es auch nicht mehr viele! Es gibt ja auch keinen 8.000er mehr den man als Erster besteigen könnte. Im Himalaya gibt es aber noch zahllose Abfahrten die mit Ski erstbefahren werden können. Warum gehen die potentiellen Erstbefahrer nicht öfter in den Himalaya und bringen Beweise ihrer Abfahrten mit? Ich bin mit einem Film von meiner 8.000er Befahrung zurück gekommen!
Wie Alpinisten einen Beweis ihres Aufstiegs mitbringen müssen Skifahrer einen Beweis ihrer Abfahrt zeigen.
Steilwandskifahren ist ja quasi umgekehrter Alpinismus, der Weg hinunter zählt. Ich bin der erste der echte Beweise akzeptiert! Es gibt ja leider viele Beispiele von Lügnern, die sich selbst mit einer Skispur im Hintergrund von einem Berg hinunter fotografieren, da gibt es viele. Das lässt sich aber auch ganz einfach manipulieren.

B: Warum gehen Menschen solche Risiken ein?
S: Das ist schwer zu beantworten. Ich denke grundsätzlich, dass jeder Mensch tut wofür er gemacht ist. Das stimmt leider nicht überall, viele Menschen müssen unter Zwang leben und sind eben nicht frei zu tun wofür sie gemacht sind. Aber diejenigen, die das Glück haben frei aufzuwachsen und frühzeitig ihre Bestimmung zu finden, wobei das bei mir nicht wirklich früh war da ich schon über 30 war als ich mit dem extremen Skilauf begann, die können sich so verwirklichen und gehen dafür Risiken ein.
Was ich sagen will ist, dass es Menschen gibt, die sind für das Abenteuer geboren, erkennen es und führen es dann auch durch.
Sie leben diese Einstellung bis an ihr Ende. So fühle ich mich jedenfalls.
Dagegen lehne ich ein Leben ab das „koste es was es wolle“ am Limit sein soll. Das Ziel des Lebens ist meiner Ansicht nach ja eben lange und ausdauernd das Leben seiner Vorstellung zu leben, es nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Das heißt nicht, dass man nicht auch mal alles in die Wagschale werfen darf, aber es muss bedacht und intelligent sein, um das Maximum aus sich zu machen. Heute bin ich der Bankier meiner physischen Möglichkeiten die im Alter leider abnehmen, aber so muss jeder haushalten, sollte nicht immer alles nur auf eine Karte setzen, nicht alle seine Reserven aufbrauchen. Zu jeder Zeit wenn ich an meinem Limit ankam merkte ich, dass es noch eine kleine Reserve gab. Am Limit habe ich dann noch ein kleines Stückchen weiter gesehen und die Reserve weiter nach oben geschoben. Physisch und technisch – beides gehört zusammen.
Alle glauben immer, dass Höchstleistung nur von maximalem Trainingserfolg abhängt, aber das stimmt nicht – man braucht die richtige mentale Einstellung, um die Leistung abrufen zu können. Und das ist nicht nur beim Steilwandskifahren so, das trifft auf alle Lebensbereiche zu.

B: Wie hast Du diese mentale Einstellung gefunden?
S: Mit zehn Jahren hütete ich die Kühe und Schafe auf der Alm meines Vaters. In einer löchrigen Hütte musste ich übernachten, mit unserem Hund. Das ging 40 Tage so, ab und an kam mein Vater, um nach dem Rechten zu sehen. Es gab dort ein hohes Plateau auf dem ich und die Tiere waren, zweihundert Meter weiter unten war die Quelle. Der Weg dorthin war steil und durchaus gefährlich. Ich musste jeden Tag hinunter laufen, um das Wasser für das Vieh zu holen. Für einen Zehnjährigen war das harte Arbeit. Also nahm ich die Tiere, die sich am sichersten bewegen konnten, mit hinunter, um sie zu tränken. Anschließend ging ich mit ihnen wieder hinauf. Etwa die Hälfte der Herde kam so zum Wasser, die andere Wasserhälfte musste ich weiterhin hinauftragen, aber es war deutlich weniger Arbeit. Mein Vater hatte jedoch immer gesagt, dass ich dies nicht tun dürfe, um die wertvollen Tiere nicht zu gefährden. Ich habe es ihm aber nicht gesagt und die Fußspuren verwischt. Er hat es natürlich trotzdem gemerkt. Er stellte mich zur Rede: „Sylvain, ich hatte dir verboten die Tiere zur Quelle zu führen.“ Ich entgegnete ihm, dass ich die Geeigneten, die mit der größten Trittsicherheit, ausgewählt hätte. Ab da durfte ich mit diesen weiterhin zur Quelle absteigen. Mein Vater hatte meine besonnene Wahl akzeptiert und vertraute mir.
Damals wuchs der Abenteurer in mir, ich wagte die Dinge die ich machen wollte, nachdem ich darüber nachgedacht hatte.